Die Atemtherapie nach Middendorf ist ein ganzheitlich wirkendes psycho-physisches Verfahren, das auch von vielen Physiotherapeuten mit einer entsprechenden Zusatzausbildung im Rahmen der Krankengymnastik und Massage durchgeführt wird. Im Zentrum der Atemtherapie nach Middendorf steht die „Erfahrbarmachung des Atems“.

Falsche Atmung fördert Befindlichkeitsstörungen und kann gesundheitliche Probleme auslösen. Wenn das verfügbare Atemvolumen, das bei Gesunden mehr als sechs Liter betragen kann, häufig nicht ausgenutzt wird und es oft zu einer schnellen und flachen Atmung kommt, sind negative Folgen für die Gesundheit nicht ausgeschlossen.

Denn eine flache und schnelle Atmung, wie sie hauptsächlich bei Stress und verschiedenen Erkrankungen zu beobachten ist, geht oft mit einer verminderten Sauerstoffversorgung einher.

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Verfahren der Naturheilkunde und Übersicht der Heilmethoden

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Neben Atemnot, Konzentrationsstörungen und Kraftlosigkeit kann es dadurch zu Bluthochdruck, Schmerzen, Verspannungen oder auch zu einer versagenden Stimme kommen.

Ziel der Atemtherapie ist es, die bewusste Körperwahrnehmung zu fördern, um eigene Potentiale erkennen und entwickeln zu können, Muskelverspannungen zu lösen und die Atmung zu erleichtern.

Die Atemtherapie nach Middendorf hat ein sehr breites Anwendungsgebiet und basiert auf der Annahme, dass bei erkrankten Menschen die Bezüge zwischen direkter und indirekter Atmung gestört sind. Therapeuten verfolgen das Ziel, Patienten mit verschiedenen Techniken und Übungen die körperlichen und seelischen Bezüge des Atmens bewusst zu machen, damit sie ihre Atmung beeinflussen und so die Störung überwinden können.

Die Therapie regt die Selbstheilungskräfte des Körpers an und ist zur Vorsorge, als eigenständige Therapie und als begleitende Therapie geeignet. Auch Sportler und viele Künstler nutzen die Atemtherapie nach Middendorf, darunter Sänger, Schauspieler, Tänzer und Musiker.

Wirkung

Experten verbinden die Atemtherapie mit vielen positiven Wirkungen, denn die Körperzellen erhalten eine bessere Sauerstoffversorgung und sind dadurch in der Lage, ihre Aufgaben besser zu erfüllen. Eine Atemtherapie wirkt beruhigend auf das vegetative Nervensystem, regt den Stoffwechsel an und nimmt über die Atmung Einfluss auf den Blutdruck, Gefäßtonus und Muskeltonus. Außerdem kann sie die Lungenfunktion verbessern. Atembewegungen fördern zudem die Bewegung der Lymphflüssigkeit.

Die Wirkung der Atemtherapie umfasst alle inneren und äußeren Bezüge eines Menschen und berührt damit neben der körperlichen Ebene auch die emotionale, spirituelle und kognitive Ebene. Unter kognitiv verstehen Pädagogen und Psychologen neben der Fähigkeit zu Denken auch die Wahrnehmung und die Fähigkeit zu Erkennen.

In den Fokus rücken dabei die direkte Atmung als lebenserhaltende Grundfunktion des Körpers und die indirekte Atmung, die vom vegetativen System unterbewusst gesteuert wird und bewusst erfahren werden soll. Das erlernte Atemerleben führt zu einem neuem Körper- und Selbstbewusstsein. Dadurch wird der Körper in die Lage versetzt, Kräfte zu mobilisieren, die Raum für Selbsterkenntnis schaffen und die Heilung bei verschiedenen Erkrankungen unterstützen.

Anwendungsgebiete der Atemtherapie nach Middendorf

Wegen der Schnittmenge mit psychotherapeutischen Verfahrensweisen hat die Atemtherapie nach Middendorf ein breiteres Anwendungsgebiet als reine Naturheilverfahren. Über die Atemtherapie kann insbesondere solchen Patienten, die Psychotherapien nicht offen gegenüberstehen, der Zugang zu Psychotherapien erleichtert werden.

Zu den Hauptindikationen zählen neben Allergien, Emphyseme, Asthma, Bronchitis und Migräne auch zahlreiche funktionelle Störungen, die die Atmung, die Stimme, das Herz-Kreislaufsystems und den Verdauungstrakt betreffen.

Weitere Anwendung erfolgt bei Phobien, dem Borderline-Syndrom, depressiven und hysterischen Fehlhaltungen sowie bei Erwartungsängsten, Zwängen und Essstörungen. Außerdem kommt die Atemtherapie nach Middendorf zum Einsatz bei psychogenen Hauterkrankungen, psychovegetativen Erschöpfungs- und Spannungszuständen sowie zur Rehabilitation nach psychiatrischer Behandlung. Auch bei der Bewältigung von Trauerreaktionen durch Tod und Trennung erweist sich die Therapie als hilfreich.

Sie eignet sich auch zur Rehabilitation nach Operationen und schweren Erkrankungen und als Begleittherapie zum Beispiel bei Chemotherapien oder Bestrahlungen, zur Geburtsvorbereitung in der Schwangerschaft sowie zur Tumornachsorge. In der Geriatrie wird sie zur Vitalisierung und Mobilisierung eingesetzt.

Zum Einsatz kommt die Atemtherapie darüber hinaus bei Haltungsschäden, Skoliosen, dem HWS-Syndrom sowie dem LWS- Syndrom. Auch bei Hyperventilation, Menstruationsbeschwerden und Schlafstörungen zählt sie zu den Behandlungsoptionen.

Anwendung der Atemtherapie

Damit eine Atemtherapie erfolgreich angewendet werden kann, ist bei Betroffenen eine Bereitschaft zur Arbeit an sich selbst erforderlich. Abhängig vom Schweregrad und der Art der bestehenden Erkrankung entscheidet der Therapeut, ob eine Einzeltherapie oder eine Gruppentherapie angezeigt ist.

Im Mittelpunkt stehen Atemübungen, die Patienten dabei unterstützen zu entspannen. Auf diese Weise können Schmerzen und Blutdruck positiv beeinflusst werden. Ein besseres Körpergefühl wird gefördert und auch neue Kraft kann gewonnen werden.

Patienten erlernen körpereigene Atembereiche aufzuspüren und ihren Atemrhythmus zu steuern.

Grundlagen und Funktion

Die zentralen Grundlagen der Atemtherapie bilden drei Grundpfeiler.

Ein Grundpfeiler bildet das Empfinden, bei dem es um die Körperwahrnehmung geht. Beim zweiten Pfeiler steht das Sammeln im Focus. Es geht insbesondere um die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit auf Körperbereiche zu lenken. Einen weiteren Pfeiler bildet das Atmen als Therapiekern. Im Zentrum steht der erfahrbare Atem.

In körperlicher Hinsicht nimmt die Atemtherapie Einfluss auf das im Hirnstamm liegende Atemzentrum. Der Hirnstamm steht in enger Verbindung mit der sogenannten Formatio reticularis. Diese bildet ein engmaschiges Netz von Nervenzellen und  steuert neben dem Wachrhythmus und Schlafrhythmus auch die Aufmerksamkeit.

Die unbewusste Atemfunktion

Die normalerweise unterbewusst ablaufenden Vorgänge und Funktionen können „empfindlich und unmittelbar“ durch bewusstes Atem beeinflusst werden, wodurch ein Zugang zu Körper, Geist und Seele möglich ist.

Dauerhaft belastende und einengende Zustände sorgen dafür, dass die Atmung ihre Qualität, Kraft und die ganzheitlich wirkende Rhythmik verliert und die unbewusste Atemfunktion ungewollt beeinträchtigt. Die unbewusste Atemfunktion ist lebenserhaltend, sie muss den Körper versorgen, heilen und in vielen Lebenslagen unterstützen.

Der vom Willen geführte Atem

Der vom Willen geführte Atem hat einen Zweck und ein Ziel. Er wird beim Singen, Tanzen oder beim Sport sowie auch bei festgeformten Atemübungen genutzt.

Der erfahrbare Atem

Der erfahrbare Atem ist nicht festgeformt. Er ist in das Sein eingebettet und in seiner Ganzheit zu erfahren. Der Atem wird kommen gelassen, ohne ihn zu führen.

Bei der praktischen Arbeit wird der Atem bewusst in verschiedenen Atemräumen erfahren, die im Rumpf angesiedelt sind und zusammen den Innenraum bilden.

Der untere Atemraum umfasst die Beine und das Becken. Er steht symbolisch betrachtet für die Erde, die tragende Kraft und Verwurzelung.

Der mittlere Atemraum befindet sich ungefähr zwischen dem Bauchnabel und dem sechsten Rippenring. Das darin liegende Zwerchfell wirkt wie ein schwingendes Segel.

Der obere Atemraum beginnt über dem mittlerem Bereich und beinhaltet den Schultergürtel, die Arme, den Hals und den Kopf. Bildlich verglichen wird der obere Atemraum mit der Krone eines Baumes, die von der Wurzel und dem Stamm gestützt wird.

Neben dem Atembereich im Bereich des Rumpfes, der dem Innenraum zugeordnet ist, kommen mit der Wirbelsäule und dem Außenbereich des Körpers (Körperperipherie) zwei weitere Atembereiche hinzu, die in praktischen Arbeit eine Rolle spielen.

Methodische Hilfen zur Atemerfahrung

Verschiedene Maßnahmen können die Behandlung unterstützen. Dazu zählen neben körperlichen Dehnübungen auch Bewegungsübungen. Die Atemräume können durch Druckpunkte erfahrbar (Widerstandsgebung) gemacht werden. Auch Vokalatemräume lassen sich erfahren.

Partnerübungen dienen als weitere methodische Hilfe.

Einzeltherapie

Eine Einzeltherapie dauert gewöhnlich 60 Minuten. Am Anfang der Atemtherapie nach Middendorf steht eine Anamnese, bei der der Therapeut sich über bestehende Beschwerden und die Krankheitsgeschichte, bzw. Leidensgeschichte informiert.

Häufig liegt der Patient während der Atemtherapiesitzung, die Sitzung kann aber auch im Sitzen durchgeführt werden. Bei der Einzeltherapie bringt der Therapeut zunächst mit gezielten Behandlungsgriffen eine gehemmte Atembewegung in Gang.

Zur Anwendung kommen spezielle Übungen und Techniken. Neben den atemtherapeutischen Griffen, kommt Atemarbeit auch in Verbindung mit Bewegungen und in Verbindung mit der Stimme zum Einsatz.

Dabei unterstützt der Therapeut den Patienten beim Nachspüren der Atembewegungen, die er mit den Händen begleitet. Wenn einige Körperregionen vom Patienten nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen werden, arbeitet der Therapeut an der Bewusstmachung der Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Es entsteht für den Patienten eine Situation der ganzheitlichen Selbstanalyse und Reflektion, in dessen Focus Körperwahrnehmung, Körperreaktionen sowie die auf sich selbst gerichtete umfassende Empfindung steht.

Das unbewusste Atemerlebnis wird schrittweise bewusst gemacht und es erfolgt ein Zuwachs an Atemkraft, den Experten auch als ganzheitlich wirkende Ich-Kraft bezeichnen. Neurotische Verhaltensmuster lassen sich durch die Qualität der Atembewegungen auflösen oder verringern.

Am Ziel steht der Zusammenschluss der Selbst- und Fremdwahrnehmung.

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Gruppentherapie

Die Atemtherapie in der Gruppe wird sitzend, stehend oder liegend praktiziert. Verschiedene Übungsteile werden in Bewegung und Ruhe geübt, die Bewegungsabläufe gibt der Therapeut vor.

Eine wichtige Rolle spielt auch der Einsatz der Stimme, darunter die Bildung von Vokalen und Konsonanten.

Dem Nachspüren kommt eine große Bedeutung zu, da sich Geübtes dadurch ganzheitlich erfahren lässt. Durch ein anschließendes austauschendes Gespräch können bei der Gruppentherapie Erfahrungen auch kognitiv erfasst werden.

Im Mittelpunkt steht, das eigene Maß bei der Atmung zu finden und das Sammlungsvermögen und Empfindungsbewusstsein darauf hin zu schulen, um zu einer ganzheitlichen Selbstwahrnehmung zu kommen.

Gegenanzeigen

Nicht bei jedem Patienten kann die Atemtherapie allein oder begleitend zu anderen Therapien angewendet werden.

Insbesondere bei schwer gestörten klinischen Patienten raten Therapeuten von der Anwendung ab. Auch in Phasen akuter körperlicher oder seelischer Entgleisung halten Therapeuten die Atemtherapie nicht für angezeigt. Bei Hypochondrie ist die Therapie ebenfalls nicht angezeigt.

Autor: Katja Schulte Redaktion
Datum: 28.05.2023
Bildquelle: 

Titelbild: © Foto von Alex Green bei pexels.com

Quellen und weiterführende Informationen:

M. Augustin, V. Schmiedel. Praxis Leitfaden. Naturheilkunde. 2. neu bearbeitete Auflage. Jungjohann Verlagsgesellschaft. 1994

I. Middendorf, Berlin. Die Atemlehre von Prof. Ilse Middendorf. Der erfahrbare Atem. Musikphysiologie und Musikermedizin 2004, 11.Jg., Nr. 1 u. 2

NDR. Atemtherapie. Mit Übungen einfach entspannen. 09.07.2019

Berufsvereinigung der AtemtherapeutInnen/-pädagogInnen des Erfahrbaren Atems nach Prof. Ilse Middendorf e.V. (BEAM)

Wichtige Hinweise zu Gesundheitsthemen

Dieser Artikel behandelt ein Gesundheitsthema. Er dient nicht der Selbstdiagnose und ersetzt keine Arztdiagnose. Bitte beachten Sie hierzu die weiteren Hinweise zu Gesundheitsthemen

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